Pfefferminze | Züriost - Immer da. Immer nah.

2022-10-09 17:45:28 By : Ms. YING ZHENG

Von Silvia Isgrò aus Turbenthal. Die 49-Jährige erhielt im SMS-Voting in der Kategorie «Erwachsene» am meisten Stimmen und gewinnt mit ihrer Geschichte den Schreibstar-Wettbewerb 2021.

Sie sass da, mit den Händen im Schoss. Manchmal schälte sie Birnen. Wir Kinder spielten neben ihr im Hof und freuten uns über die saftigen Schnitze, welche sie uns entgegenstreckte. Sie war klein und rund, hatte unverhältnismässig grosse Füsse. Die Zehen waren verformt, und die vergilbten Nägel erinnerten an die trockenen Hügelketten, welche die Insel säumen. Ihre Augen strahlten Güte aus. Sie lächelte immer.  Mir kam es vor, als hätte sie immer das gleiche Kleid an: einen braunen Rock und eine blumige Schürze darüber. Ihre grauen, langen Haare waren zu einem Dutt zusammengebunden. Die Haut braun und faltig. Morgens hörte sie manchmal Radio; lesen und schreiben konnte sie nicht.

Ihre Bescheidenheit war im ganzen Haus sichtbar. Sie bewohnte nur einen Raum. Bilder, welche wir an den Abenden malten, schmückten die Wände. Die mitgebrachte Schokolade konnte sie mit ihren Zähnen nicht mehr essen. Doch sie freute sich über den lange haltbaren Dosenfleischkäse, welchen meine Brüder und ich manchmal aus dem Kühlschrank stibitzten und den streunenden Katzen verfütterten.

So klein ihre Welt war, so gross war ihr Herz.

Wenn die Hitze mit der Sonne hinter der grossen Kirche versank, erwachte die Strasse. Türen wurden geöffnet und Stühle rausgestellt. Die Zeit der Alten. Sie sprachen in diesem unverkennbaren Dialekt, gestikulierten, kauten gesalzene Kürbiskerne, spuckten die Schalen aus und tranken hie und da auch ein Glas des süffigen Weines aus den Trauben des Hinterlandes. Das Bellen der Hunde ertrank im Singsang, das Hupen der Autos wurde zur Melodie, und der Gestank des Abfalls im überfüllten Container erinnerte an die grossen Städte auf der Insel, welche sie nie gesehen hat.

So klein ihre Welt war, so gross war ihr Herz. Die weiteste Reise unternahm sie jeweils mit uns. Wir fuhren zusammen mit unserem roten Kombi in eine nahe Kleinstadt zu ihren lustigen Schwestern. Diese Besuche erschienen uns Kindern endlos. Wir wurden jedes Mal abgeküsst, in die Wangen gekniffen, begutachtet und nochmals abgeküsst. Danach sassen wir draussen auf dem Marmor der Türschwelle, gaben den herumschwirrenden Fliegen Namen, versuchten Schweizer Autokennzeichen auf der lauten Strasse auszumachen und hofften auf einen klapprigen Ape, welcher durch die krächzenden Lautsprecher eine kühlende Granita ankündigen würde.

Unsere Welt drehte in den Sommerferien immer etwas runder.

Mit kleinen Ästen zeichneten wir Rätsel in den Staub am Strassenrand, und wenn wir keine Ideen mehr hatten, was wir noch tun könnten, gingen wir zurück zu den Erwachsenen. In der kühlen, grossen Küche bekamen wir süssen Nektar in kleinen Glasflaschen zu trinken, welchen die Schwestern extra für uns kauften. Die geflochtenen Sitzflächen der Küchenstühle bescherten uns wellige Abdrücke auf den Oberschenkeln. Ich stellte meine Füsse auf die Stuhlleiste und tastete diesen gewölbten Linien entlang, liess in meiner Phantasie Landkarten entstehen. Wege ans Meer.

Unsere Welt drehte in den Sommerferien immer etwas runder. Jeden Tag gingen wir ans Meer. Meine Eltern machten es sich im Schatten des orangen Sonnenschirmes gemütlich, und meine Brüder und ich stachen mit unserem Gummiboot in See. Bei guter Sicht konnten wir in der Ferne Land erkennen. Afrika; davon waren wir überzeugt.

Wir schmiedeten Expeditionspläne, trainierten beim Rudern unsere Muskeln, hielten möglichst lange den Atem an und versuchten, ausgerüstet mit einer Taucherbrille, welche wir abwechslungsweise trugen, kleine Fische zu fangen. Dies gelang uns nie, dafür fanden wir Schätze: schöne Steine, Muscheln, ausgewaschene Glasscherben, Krebsrücken und einmal sogar ein Skelett eines Seepferdchens. Handelsware, welche wir sorgsam in einem roten Eimerchen aufbewahrten. Für die Expedition nach Afrika waren wir nie ganz bereit, doch an diesen Tagen schien alles erreichbar zu sein.

Sie sass da im Hof, immer auf dem gleichen Stuhl. Sie hat Birnen geschält und uns beim Spielen zugeschaut.

Ich bin mir nicht sicher, ob sie jemals am Strand war. Ob sie jemals mit der Zungenspitze über den Unterarm glitt, um die salzige Haut zu schmecken. Ob sie den Sand durch die Finger rieseln liess, die Füsse eingrub und das schöne Gefühl der feinen Kiesel zwischen den Zehen genoss, den ankommenden Wellen lauschte. Sie sass da im Hof, immer auf dem gleichen Stuhl. Sie hat Birnen geschält und uns beim Spielen zugeschaut. Sie hat mit der alten Kaffeemühle getrockneten Oregano gemahlen und für die Suppenbeilage Spaghetti zerbrochen. Sie hat Brotmocken in der Milch aufgeweicht und das Jacquard-Bild von Wilhelm Tell und Walti geradegerückt, welches manchmal durch unser Hereinstürmen in Schieflage geriet. Sie hat ihre Wäsche am Brunnen gewaschen und mit der Brille auf der Nasenspitze ganz feine Deckelchen gehäkelt. Beim Abschied hat sie immer geweint. Sanft und leise.

Heute habe ich Pfefferminze gerochen. Die feine Anarchie Siziliens, der tröstende Klang der Wellen, die neugierigen Winde des Scirocco, die kühlenden Schatten der Olivenhaine und der Geschmack des Salzes. Heute habe ich Pfefferminze gerochen und sah meine Nonna. Im Hof, mit den Händen im Schoss. Sie lächelte. Die Sehnsucht glühend am Horizont der Erinnerung.

Das schönste Leserbild der Woche